Chaos bei der Terminbuchung, liegen gebliebene Impfdosen und zu viel Bürokratie: Während in anderen Ländern bereits die Mehrheit der Bevölkerung vollständig geimpft ist, sind es in Deutschland Anfang Juni nur 20 Prozent. Doch es gibt auch Menschen, die die Situation auf ihre Weise verbessern wollen, indem sie Gedichte schreiben, sich über Vorbilder Gedanken machen oder mit den Herstellern der Impfstoffe verhandeln. Über den langen und holprigen Weg zurück zur Normalität.
Selten schien die Menschheit etwas mehr zu ersehnen als die Zeit nach der Pandemie. Für manche ist es vielleicht ein Barabend mit den Freunden oder das Fest mit Oma, Opa oder dem Enkelkind, das schmerzlich fehlt. Helga Hofmann fehlt vor allem eines: der Plausch mit den Menschen in ihrer Kleinstadt.
Auf ihrem Abendspaziergang traf sie vor Corona Nachbarn, Chorsänger oder den Oberschullehrer ihres Enkels.
„Plötzlich war ich immer eineinhalb Stunden unterwegs, obwohl es nur einmal ums Karree war“, erinnert sich die 78-Jährige lachend. Doch die Menschen wurden nachlässiger, sagt sie – Abstände kaum noch eingehalten. Etwa ein Jahr nach Pandemiebeginn geht Hofmann kaum noch spazieren.
Sie hat einen Wunsch: dass mehr Menschen sich impfen lassen. Deswegen versucht sie mit Verwandten zu diskutieren oder liest Gedichte im Radio vor. Die Texte handeln etwa von dem Leben nach dem Piks. Nicht nur die Sprechstundenhilfe bei ihrem Arzt kennt ihre Werke. Mittlerweile bekommt Helga Hofmann Zuschriften aus ganz Bayern.
Hofmann ist nicht die Einzige, die versucht, auf ihre Weise einen Beitrag zu leisten. Es gibt auch Studierende, die über Webseiten Impftermine vermitteln, Forschende, die auf Hochtouren nach weiteren Impfstoffen suchen oder Unternehmen, die sich zu Initiativen zusammenschließen. Sie alle wollen das Impfen voranbringen. Noch scheint das Ende der Pandemie fern.
Helga Hofmann gehört zu den kleinsten Akteuren im Uhrwerk der Impfkampagne: den einzelnen Bürgern. Für die folgenden fünf war der Entschluss, sich impfen oder nicht impfen zu lassen, ein höchst individueller – und doch wie kaum ein anderer so stark von politischen Debatten, gesellschaftlichem Druck oder entsprechender Kommunikation geprägt.
Das Infektionsgeschehen geht zurück, je mehr Menschen immun gegen das Coronavirus sind. Dabei spielt es erst einmal keine Rolle, ob die Menschen geimpft oder erkrankt und genesen sind. Mit Impfungen ließe sich das Virus aber schnell zurückdrängen, ohne dass viele Menschen an Covid-19 erkranken. Das würde Krankenhäuser und Ärzte entlasten, weniger Menschen würden sterben. Je mehr Menschen geimpft sind, desto weniger Chancen hat das Virus, sich zu verbreiten. Doch einen so großen Teil der Bevölkerung zu impfen ist alles andere als leicht. Für den Sozialpsychologen Dieter Frey müsste man deswegen vor allem Folgendes tun: aufklären, überzeugen und die Vorteile der Impfung herausstellen.
Laut einer Studie der Universität Erfurt wurden 76 Prozent der Erwachsenen zwischen 18 und 76 Jahren bereits mindestens einmal geimpft oder möchte sich impfen lassen. Wer sich dagegen entscheidet, würde sich etwa laut dem Virologen Professor Christian Drosten “unweigerlich infizieren.” Somit könnten früher oder später fast alle Deutschen immunisiert sein — der eine Weg führt über viele Erkrankungen und würde deutlich länger dauern, der andere zielt auf die Herdenimmunität durch Impfungen.
Bis die Impfbereitschaft für die Pandemiebekämpfung zum größten Problem wird, stellen sich zunächst andere Fragen: Warum haben auch die, die sich impfen lassen wollen, noch keinen Termin oder müssen lange darauf warten? Fragen, die vom Hausarzt um die Ecke bis zu den Verhandlungen und zur Einkaufspolitik der EU führen.
In vielen Kommunen wurde über meterlange Warteschlangen vor den Impfzentren, Probleme bei der Terminbuchung oder Chaos bei den Hotlines berichtet. Die Arztpraxen bestellen, ohne zu wissen, ob sie auch ausreichend Impfdosen bekommen. In den Impfzentren werden nicht alle theoretisch verwendbaren Dosen genutzt.
Nach den großen Impfzentren sind seit April auch die Hausärzte an der Impfkampagne beteiligt und haben das Impftempo stetig erhöht. Mittlerweile machen sie einen großen Teil der Impfkampagne in Deutschland aus. Diesen Teil der Dosen haben jeweils Hausärzte oder Impfzentren in den letzten sieben Tagen verimpft:
Letztlich sind die Ärzte und Impfzentren davon abhängig, was auf höherer Ebene entschieden wird. Nicht in jedem Bundesland läuft die Impfkampagne so effizient wie möglich ab.
Ein weiterer Streitpunkt der Impfkampagne sind zusätzliche Dosen und wie die Bundesländer damit umgehen. Vertraglich liefern die Hersteller ein bestimmtes und vereinbartes Kontingent. Doch in den Fläschchen befindet sich immer etwas mehr Impfstoff und somit eine zusätzliche Impfdosis. Um sie herauszuholen, braucht es die richtige Technik, eine besondere Spritze – und politischen Willen. Doch Bundesländer wie Hamburg haben diese siebte Dosis noch nicht freigegeben und lassen damit weitaus mehr ungenutzt als andere.
Das Bundesland Nordrhein-Westfalen beispielsweise hat im Februar die siebte Dosis freigegeben, Hamburg noch nicht. Das Szenario: So viele Impfdosen wären bislang entsorgt worden, hätten ausnahmslos alle Ärzte in NRW seitdem die zusätzliche Dosis genutzt aber kein Arzt im Hamburg:
Prozent
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Bei den meisten handelsüblichen Spritzen verbleibt immer etwas Flüssigkeit vorne im Spritzenauslass. Wirkstoff geht verloren.
Diese Spritze haben einen sogenannten Spardorn. Dieser drückt die maximale Flüssigkeit aus der Spritze beziehungsweise aus dem Spritzenauslass. Das minimiert das Totraumvolumen und somit den Verlust an Impfstoff.
Und auch auf Bundesebene setzen sich Menschen dafür ein, dass es schneller vorangeht. Ein wichtiger Punkt: die Forschung.
Noch im Sommer letzten Jahres rechnete kaum jemand damit, dass die Impfstoffe 2020 zum ersten Mal gespritzt würden. Die Arznei- und Impfstoffherstellung gehören zu den aufwendigsten, risikoreichsten und daher teuersten Forschungsprojekten überhaupt. Laut US-Zulassungsbehörde FDA wurde zwischen 2010 und 2014 nur jeder zehnte Impfstoff beziehungsweise jedes zehnte zur Prüfung vorgelegte Arzneimittel zugelassen. Selten hat es so viele verschiedene Forschungsprojekte zu einer Infektionskrankheit gegeben — obwohl bereits im großen Stil geimpft wird. Und: Es wird weiterhin intensiv geforscht.
Der Impfstoff Comirnaty von Biontech und Pfizer wurde in den meisten Ländern als erster zugelassen. Die Entwicklungsschritte liefen dabei gleichzeitig (parallel) ab und so besonders schnell — ohne notwendige Schritte auszulassen. Auf reguläre Weise, also Schritt für Schritt, hätte sie viel länger gedauert.
Die kurze Entwicklungszeit erfreut die einen und führt bei anderen zu Zweifeln. Oft wird vor noch nicht bekannten Langzeitfolgen gewarnt. Sehr seltene Nebenwirkungen wie die Hirnvenenthrombosen nach einer Impfung mit Vektorimpfstoffen von AstraZeneca oder Johnson & Johnson wurden in den klinischen Zulassungsstudien nicht beobachtet. Hätte man sie vorher finden können?
Sehr seltene Nebenwirkungen der neuen Impfstoffe wie die Hirnvenenthrombosen oder Herzmuskelentzündungen haben viele Bürger überrascht und verunsichert. Das mangelnde Vertrauen in die Impfstoffe und eine vergrößerte Risikowahrnehmung sind die zwei Hauptgründe, weshalb sich Menschen gegen die Covid-19-Impfung entscheiden — obwohl das Risiko bei einer Erkrankung für viele Menschen noch immer weitaus höher liegt. Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer sieht als Ursache dieser verzerrten Wahrnehmung vor allem ein Kommunikations- und Bildungsproblem:
Forscher, Behörden und Unternehmen – sie alle wollen das Impfen beschleunigen. Damit es schneller geht, muss etwas ganz Grundlegendes geändert werden. Egal ob im Emsland, in Regensburg oder in Bremen – von den Landräten vor Ort heißt es immer wieder: Nach wie vor sei die größte Hürde bei der Impfkampagne, dass
viel zu wenig Impfstoff verfügbar ist.
Vor etwa einem Jahr begannen die Verhandlungen der EU mit den verschiedenen Herstellern der Impfstoffe. Zu einem Zeitpunkt, zu dem kaum klar war, welches der Vakzine wirksam sein würde:
Während in den USA schon jeder dritte Bürger vollständig geimpft ist, wurde dieser Meilenstein in Deutschland und der EU noch nicht erreicht.
Gründe für den US-amerikanischen Vorsprung waren eine kluge Strategie und das nötige Glück: Die US-Regierung handelte als Investor, mobilisierte 18 Milliarden Dollar, kaufte sich seit dem Sommer in Unternehmen ein und vergrößerte die Produktion. Das Ziel: 300 Millionen Impfdosen zu Beginn der Impfkampagne — also eine für fast jeden US-Bürger. Das Resultat: keine Impfstoff-Engpässe. Letztlich war es aber auch Glück, dass die favorisierten Impfstoffe von Pfizer und Moderna früh zugelassen wurden.
Die EU-Kommission hingegen schloss erst spät einen Vertrag mit Pfizer und Biontech ab. Sie hatte anfangs auf den Impfstoff von AstraZeneca gesetzt. Anders als die USA agierte die EU als Kunde und bestellte gleich bei sechs Herstellern Impfdosen, um das Ausfallrisiko eines einzelnen Herstellers zu verringern. Doch Johnson&Johnson lieferte spät und wenige Dosen, sowohl Sanofi und GlaxoSmithKline als auch CureVac wiederum erst ab Ende 2021. Der anfangs größte Vertragspartner AstraZeneca konnte Liefervereinbarungen nicht einhalten und wird in einigen EU-Ländern inzwischen gar nicht mehr eingesetzt. Mittlerweile macht der Impfstoff von Pfizer und Biontech die Hälfte aller vereinbarten Dosen aus.
Erst viel später gewinnt die Impfkampagne in Europa an Fahrt. Bis Anfang Juni hat die EU-Kommission Verträge über mehr als 4,4 Milliarden Impfdosen abgeschlossen. Der Wettlauf mit dem Virus, er wird ein Marathon und kein Sprint. Wie also sieht es in Zukunft aus?
Es scheint voranzugehen: In Deutschland impfen nun mehr und mehr Hausärzte, auch Betriebsärzte dürfen ihre Belegschaften immunisieren. Vier Impfstoffe sind in Europa Anfang Juni 2021 zugelassen, genauso viele könnten noch in diesem Jahr folgen.
Bis zum Herbst sollen in Deutschland und Europa genug Impfdosen verfügbar sein, um mindestens 70 Prozent der Menschen zu impfen. Das allein wird nicht reichen.
Eine Idee, um schneller mehr Impfstoff zu bekommen, ist die Aufhebung des Patentschutzes. Das, so hoffen viele, würde auch die Impfungen in anderen und vor allem armen Ländern ankurbeln. Dort kommt bislang kaum Impfstoff an. Solange sich dort aber viele Menschen infizieren, steigt das Risiko für neue Varianten. Sie gelangen letztlich auch nach Deutschland und erhöhen die Schwelle für die Herdenimmunität.
Experten sind sich einig: Wir werden auch in Zukunft mit dem Virus leben. Je schneller so viele Menschen wie möglich immunisiert sind, umso schneller wandelt sich Covid-19 von der Pandemie zur Epidemie.
Nicht nur die Gedichteschreiberin Helga Hofmann wünscht sich, dass dieses Coronavirus zurückgedrängt wird. Hofmann ist inzwischen vollständig geimpft. Seit der zweiten Spritze hat sich für sie viel verändert: Friseurtermine, Fußpflege, der Geburtstag einer Freundin – all das, Normalität, ist wieder möglich. Gedichte schreibt Helga Hofmann weiterhin. Damit es hoffentlich bald vielen anderen Menschen geht wie ihr.